Wesentlich für das Gelingen von gutem inklusivem Unterricht ist die Gestaltung flexibler Lernangebote, die auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Lernbedürfnisse von Schülerinnen und Schülern eingehen, also in einem umfassenden Sinne barrierefrei sind. Tom Erdel vom Centre pour le développement des compétences relatives à la vue in Luxemburg erläutert im Interview, wie ein ideales barrierefreies Lehrmittel gestaltet sein soll, was der Ansatz des Digital Accessible Publishing (DAP) bedeutet und warum die konsequente Trennung von Inhalt und Layout bei der Entwicklung von Lehrmitteln so wichtig ist.
Tom Erdel, Sie haben in einem Projekt die Situation der Schulbücher betreffend Barrierefreiheit analysiert. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Im Rahmen des Erasmus+-Projekts DEM – Digital Education Material wurde eine wissenschaftliche Analyse durchgeführt, deren Ziel darin bestand, bestehende digitale Schulbücher aus den Partnerländern Luxemburg, Deutschland, Österreich und Italien (Südtirol) unter den Aspekten Barrierefreiheit, Didaktik und technischer Umsetzung zu evaluieren. Der Schwerpunkt lag dabei auf den Fächern Mathematik und Geographie im Primarschulbereich (Jahrgangsstufen 3 und 4) sowie im Sekundarschulbereich (Jahrgangsstufe 7). Aus dieser Analyse abgeleitet, werden aktuell fachspezifische Anwendungsfälle sowie Best-Practice-Ansätze formuliert und in einem iterativen, am Learning Experience Design (LXD) orientierten Prozess in barrierefreie digitale Prototypen überführt. Diese Prototypen ermöglichen es Expertinnen und Experten und weiteren Interessierten, systematisch die Potenziale und Grenzen barrierefreier Umsetzungen in den Fächern Mathematik und Geographie zu untersuchen.
Im Zeitraum von Juni 2024 bis Februar 2025 wurden unter Verwendung eigens konzipierter Kriterienkataloge insgesamt 77 digitale Schulbücher systematisch evaluiert. Die Ergebnisse der thematischen Teilanalysen zu Barrierefreiheit und technischer Umsetzung bestätigen einige Annahmen und offenbaren spezifische Entwicklungstendenzen.
Die Untersuchung ergab, dass keine der evaluierten digitalen Schulbuchausgaben den definierten technischen Barrierefreiheitsstandards (WCAG, PDF\UA, EN 301 549 Test A) genügt. In vielen Fällen handelt es sich lediglich um eine digitale Reproduktion/Transformation des analogen Originals, hinterlegt als Bilddatei ohne Tags im jeweiligen Reader, wodurch eine Nutzung durch assistive Hilfsmittelsoftware ausgeschlossen ist. Auch die verlagseigenen Readerlösungen weisen lediglich rudimentäre Barrierefreiheitsmerkmale auf und erfüllen die Anforderungen nicht. Hervorzuheben sind:
- Semantische Verknüpfung von Medien und Text
- In 97 % der Fälle sind Bilder, Diagramme und multimediale Elemente nicht semantisch mit dem Fliesstext verbunden, sodass eine isolierte Erfassung und Verarbeitung durch assistive Technologien ausgeschlossen ist.
- Wahrnehmungsspezifische Darstellung
- In 79 % der Schulbücher fehlt jegliche Möglichkeit zur wahrnehmungsspezifischen Aufbereitung von Inhalten; vorhandene Funktionen beschränken sich zumeist auf Basisoptionen wie Zoom oder den Wechsel zwischen Ein- und Doppelseitenlayout.
- Grafikformat und Zoom-Verhalten
- Nur 14 der getesteten Schulbücher (18 %) liegen zweifelsfrei als Vektorgrafiken vor; der überwiegende Anteil basiert auf Rastergrafiken, die bei Vergrösserung deutliche Pixelierungseffekte zeigen und somit die Lesbarkeit einschränken.
- Fehlende Verschlagwortung und Filterbarkeit
- Keine der Schulbücher ermöglicht eine Gliederung, Filterung oder Selektierung nach inhaltlichen Tags (z. B. Merksätze, Definitionen), da sämtliche Inhalte nicht mit entsprechenden Metadaten versehen sind. Vorhandene, interaktive Stichwortverzeichnisse funktionierten im Test häufig nur unzuverlässig oder gar nicht.
Eine valide Bewertung der Barrierefreiheitsqualität bei der Umsetzung der untersuchten Schulbücher war somit gar nicht erst möglich, da die grundlegenden Voraussetzungen für Barrierefreiheit in keinem einzigen Fall erfüllt sind.
Die Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit, umfassende und detaillierte Richtlinien für die Konzeption und Produktion barrierefreier Schulbücher zu entwickeln. Darüber hinaus sind exemplarische Musterwerke unabdingbar, um Verlagen, Lehrpersonen und weiteren beteiligten Akteurinnen und Akteuren aufzuzeigen, wie sich die Potenziale des «digital born publishing» für die Gestaltung inklusiver und voll zugänglicher Lehrmaterialien nutzbar machen lassen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Implementierung des Prototyps und der zugehörigen Guidelines in diesem Projekt nochmals deutlich an Bedeutung.
Exemplarische Musterwerke barrierefreier Lehrmittel sind unabdingbar, um Verlagen, Lehrpersonen und weiteren beteiligten Akteurinnen und Akteuren aufzuzeigen, wie sich die Potenziale des «digital born publishing» für die Gestaltung inklusiver Lehrmittel nutzbar machen lassen.
Beginnen wir vorne: Was sind aus Ihrer Sicht Merkmale von gutem inklusivem Unterricht?
Wir verstehen inklusiven Unterricht nicht als blosse Integration einzelner Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in bestehende Unterrichtsstrukturen. Vielmehr bedeutet er eine grundlegende Veränderung der schulischen Kultur hin zu einer Lernumgebung, in der Vielfalt als Stärke begriffen und strukturell berücksichtigt wird. Diese Perspektive ist international anerkannt und rechtlich verankert, etwa im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-CRPD 2006), das den Anspruch auf ein inklusives Bildungssystem formuliert und die Notwendigkeit betont, Barrieren systematisch abzubauen.
Wesentlicher Bestandteil guten inklusiven Unterrichts ist die Gestaltung flexibler Lernangebote, die auf die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Lernenden eingehen. Dazu gehört auch der gezielte Einsatz digitaler Medien, sofern diese barrierefrei zugänglich und didaktisch sinnvoll eingebettet sind. Digitale Technologien eröffnen verschiedene Zugangswege zu Lerninhalten und ermöglichen individuelle Ausdrucksformen sowie adaptive Rückmeldungen. Grundlage dieses Ansatzes ist das Konzept des Universal Design for Learning, das unter anderem drei zentrale Dimensionen berücksichtigt: multiple Formen der Darstellung von Inhalten, vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten für Lernende sowie unterschiedliche Wege zur Motivation (vgl. CAST 2018). Der Fokus liegt dabei nicht auf der Anpassung einzelner Hilfen für bestimmte Gruppen, sondern auf einem grundsätzlich differenzierten und flexiblen Unterrichtsdesign, das von Anfang an auf Heterogenität ausgerichtet ist.
In unseren eigenen Entwicklungsarbeiten – etwa im Rahmen der interaktiven Schulbuch-Prototypen des DEM-Projekts – haben wir diesen Ansatz konkret umgesetzt, indem Aufgabenformate und Materialien von Beginn an für verschiedene Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen konzipiert wurden. Ziel war es, allen Lernenden unterschiedliche Zugänge zu den Inhalten zu eröffnen, unabhängig von individuellen spezifischen Bedürfnissen oder Lernpräferenzen.
Darüber hinaus spielt das physische und gestalterische Lernumfeld eine zentrale Rolle. Gute inklusive Räume sind nicht nur barrierefrei im baulichen Sinn, sondern orientieren sich an unterschiedlichen sensorischen und sozialen Bedürfnissen. Flexible Raumnutzung, Orientierungshilfen und Rückzugsorte tragen ebenso wie ein anpassbares Mobiliar dazu bei, eine lernförderliche Atmosphäre für alle zu schaffen. Zugleich ist ein gelingender inklusiver Unterricht ohne die enge Zusammenarbeit von Fachlehrpersonen, sonderpädagogischem Personal und unterstützenden Diensten kaum denkbar. Nur durch kontinuierliche Koordination, gemeinsame Planung und regelmässige Reflexion können Förderbedarfe präzise erkannt und Unterstützungsangebote sinnvoll integriert werden. Interprofessionelle Teams, wie sie in vielen Schulen bereits erfolgreich arbeiten, bilden dafür die organisatorische Grundlage (vgl. Serke & Streese 2022).
Wir verstehen inklusiven Unterricht nicht als blosse Integration einzelner Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in bestehende Unterrichtsstrukturen. Vielmehr bedeutet er eine grundlegende Veränderung der schulischen Kultur hin zu einer Lernumgebung, in der Vielfalt als Stärke begriffen und strukturell berücksichtigt wird.
Welche Bedeutung haben Lehrmittel Ihrer Meinung nach für guten inklusiven Unterricht?
Lehrmittel nehmen unserer Erfahrung nach eine zentrale Rolle im Gelingen inklusiven Unterrichts ein, denn sie sind das Bindeglied zwischen pädagogischem Konzept und der konkreten Lernpraxis aller Schülerinnen und Schüler. Wir sind überzeugt, dass gerade im Übergang vom traditionellen Frontalunterricht hin zu einer inklusiven Lernumgebung Materialien in vielfältigen Ausprägungen entscheidend sind, um Barrieren abzubauen und individuelle Lernwege überhaupt erst zu ermöglichen. Digitale Lehrmittel wie interaktive Tafelsoftware, die simultan Bild, Text und Ton bereitstellt, öffnen Zugänge für Lernende mit spezifischen Bedürfnissen. Ergänzend dazu ermöglichen haptische Materialien – etwa taktile Geometriebausteine oder Materialien mit unterschiedlicher Oberflächenstruktur – ein multisensorisches Erfassen abstrakter Inhalte und fördern Schülerinnen und Schüler mit motorischen Einschränkungen.
Lehrmittel nehmen unserer Erfahrung nach eine zentrale Rolle im Gelingen inklusiven Unterrichts ein, denn sie sind das Bindeglied zwischen pädagogischem Konzept und der konkreten Lernpraxis aller Schülerinnen und Schüler.
Spezifisch digitale Lehrmittel eröffnen ganz neue Möglichkeiten, die wir mit klassischen Materialien nicht erreichen können. Interaktive Lernplattformen etwa passen sich automatisch dem Kenntnisstand der einzelnen Schülerinnen und Schüler an und geben sofort Rückmeldungen, was das Lernen spürbar motivierender macht. Gleichzeitig erleichtert die Erfassung von Lernfortschritten im System den Lehrpersonen, individuelle Hürden frühzeitig zu erkennen und gezielt zu unterstützen. Barrierefreie Formate wie vorlesbare Texte, untertitelte Videos oder sprachgesteuerte Anwendungen können dafür sorgen, dass alle Schülerinnen und Schüler jederzeit selbstbestimmt und in ihrem eigenen Tempo Zugang zu den Inhalten finden. Aus unserer Erfahrung heraus treibt gerade diese Flexibilität den inklusiven Unterricht voran, weil sie es ermöglicht, Materialien im laufenden Unterricht spontan anzupassen und weiterzuentwickeln.
Barrierefreie Formate wie vorlesbare Texte, untertitelte Videos oder sprachgesteuerte Anwendungen können dafür sorgen, dass alle Schülerinnen und Schüler jederzeit selbstbestimmt und in ihrem eigenen Tempo Zugang zu den Inhalten finden.
Wie definieren Sie barrierefreie Lehrmittel und wie sieht ein «ideales» barrierefreies Lehrmittel aus?
Für uns umfasst die Definition barrierefreier digitaler Lehrmittel nicht nur die Erfüllung technischer Mindeststandards, sondern vor allem die konsequente Ausrichtung auf die Bedürfnisse aller Lernenden in ihrer ganzen Vielfalt (qualitative Barrierefreiheit).
Unter dem Begriff qualitative Barrierefreiheit verstehen wir eine vertiefte, didaktisch fundierte Zugänglichkeit, die beispielsweise über standardisierte Alternativtexte hinausgeht. In diesem Verständnis verfügen Bilder nicht nur über knappe Objektbeschreibungen, sondern über ausführliche, lernendenzentrierte Bildbeschreibungen, die in den fachlichen Kontext einbetten und auf die zugehörigen Lernziele und Kompetenzen verweisen. So vermittelt ein Diagramm nicht nur seine Struktur, sondern erklärt auch, welche Schlüsse Schülerinnen und Schüler daraus ziehen sollen und wie es in den Gesamtlernprozess eingebettet ist. Adaptivität ist ein weiteres zentrales Merkmal: Unser ideales Lehrmittel passt sich in Echtzeit an das individuelle Lernniveau und die persönlichen Präferenzen der Nutzerinnen und Nutzer an. Lernpfade verzweigen sich je nach vorliegenden Kenntnissen, Übungsaufgaben werden automatisch komplexer oder vereinfachter angeboten, Feedbackschleifen liefern unmittelbar Hinweise auf mögliche Verständnislücken. Diese adaptive Struktur unterstützt nicht nur das selbstgesteuerte Lernen, sondern entlastet Lehrpersonen, indem sie datenbasierte Einblicke in Lernfortschritte ermöglicht. Interaktives Scaffolding schliesslich bedeutet, dass das Lehrmittel nicht nur statische Informationen bereitstellt, sondern den Lernprozess aktiv begleitet: durch dynamische Hilfestellungen, durch adaptierte Hinweise genau zum richtigen Zeitpunkt und durch kollaborative Werkzeuge, die Peer-Feedback und Lehrpersonen-Rückmeldungen integrativ verknüpfen.
Technische Barrierefreiheit bedeutet für uns, dass sämtliche Inhalte auch ohne proprietäre Software nutzbar sind, Screenreader-kompatibel aufbereitet werden und alle multimedialen Elemente – Audio, Video, interaktive Grafiken – klare Metadaten und beschreibende Tags enthalten. Die Plattformunabhängigkeit sorgt dafür, dass Schülerinnen und Schüler ebenso wie Lehrpersonen von unterschiedlichen Endgeräten (Tablets, Smartphones, Desktop-Computern, interaktiven Tafeln oder spezifischen Readern) nahtlos auf identische Inhalte zugreifen können. Wichtig ist, dass alle Betriebssysteme und Browser gleichermassen unterstützt werden und dass Offline-Versionen verfügbar sind, um auch in Umgebungen mit eingeschränkter Internetanbindung inklusive Lernarbeit zu gewährleisten. Im digitalen Schulbuch müssen sämtliche Inhalte in semantisch klaren, maschinenlesbaren Formaten bereitstehen, damit sie (etwa mathematische Formeln als LaTeX, Musiknotation in Braille-Notenschrift oder Fliesstexte im DAISY-Format) unmittelbar benutzt oder transkribiert werden können. Entscheidend ist dabei, dass inhaltliche Strukturen und gestalterisches Layout strikt voneinander getrennt angesteuert werden können, sodass jede Nutzerin und jeder Nutzer die Darstellungsform individuell wählen kann und Fachtranskriptionen (sei es maschinell oder manuell) überhaupt erst möglich werden. Nur auf diese Weise können nämlich auch spezifische Transkriptionsdienste unser effizient arbeiten, um Lernenden mit Blindheit oder Sehbehinderung einen selbstständigen Zugang zu allen Unterrichtsmaterialien zu gewährleisten.
Ein ideales barrierefreies Lehrmittel zeichnet sich deshalb für uns durch mehrere Kernfaktoren aus: Es ist technisch barrierefrei, adaptiv, plattformunabhängig und bietet interaktives Scaffolding. In unserer idealen Umsetzung verschmelzen diese Aspekte (also die technische und die qualitative Barrierefreiheit) zu einem Lehrmittel, das das Lernen für alle auf einer tieferen Ebene unterstützt. So wird das Lehrmittel selbst zum integrativen Motor, der Inklusion nicht nur verspricht, sondern tatsächlich ermöglicht.
Ein ideales barrierefreies Lehrmittel zeichnet sich für uns durch mehrere Kernfaktoren aus: Es ist technisch barrierefrei, adaptiv, plattformunabhängig und bietet interaktives Scaffolding.
IBarrierefreiheit verstehen wir nicht als rein normativ zu erfüllende Liste, die abgearbeitet werden muss, sondern als dynamischen Prozess, in dem jede neue Funktion oder jedes zusätzliche Medium von vornherein unter dem Gesichtspunkt ihrer Zugänglichkeit geplant und realisiert wird.
Wie stellt sich die Situation barrierefreier Lehrmittel in anderen Ländern, zum Beispiel in Luxemburg, dar?
In Luxemburg wird die Entwicklung barrierefreier Lehrmittel durch gesetzliche Vorgaben, ministerielle Steuerung und spezialisierte Einrichtungen systematisch gefördert. Die Einhaltung internationaler Standards gewährleistet dabei die Qualität und Zugänglichkeit der Bildungsangebote für alle Lernenden.
Luxemburg ist ein Land mit rund 670‘000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Es kennt – wie die Schweiz – ebenfalls verschiedene Landessprachen, nämlich Luxemburgisch, Französisch und Deutsch. Die Entwicklung barrierefreier Lehrmittel wird vom Ministerium für Bildung, Kinder und Jugend (MENJE) koordiniert. Dieses Ministerium ist für die Umsetzung der Inklusionspolitik im Bildungsbereich verantwortlich. Lehrmittel in Luxemburg werden grundsätzlich auf dem freien Markt und vom Ministerium selbst entwickelt. In Luxemburg existieren offizielle Lehrpläne («curricula»), und bestimmte Schulbücher sind darin als Pflichtbücher festgelegt. Für Schülerinnen und Schüler öffentlicher weiterführender Schulen (Sekundarschule) und privater Schulen, die den staatlichen Lehrplänen folgen, sind die Pflichtschulbücher seit 2018/19 kostenlos. Auch in der Primarschule (Grundschule) stellt der Staat bzw. die zuständige Gemeinde die dem offiziellen Lehrplan entsprechenden Schulbücher kostenlos zur Verfügung.
Lassen Sie uns dies am Beispiel der Lehrmittelproduktion des Kompetenzzentrums Sehen CDV (Centre pour le développement des compétences relatives à la vue) und deren Einsatz in Luxemburg erörtern. Das CDV wurde durch das nationale Gesetz vom 20. Juli 2018 geschaffen (Gesetz zur Schaffung der psycho-pädagogischen Kompetenzzentren zu Gunsten der schulischen Inklusion) und untersteht dem Unterrichtsministerium (MENJE). Es unterhält bewusst keine eigenen Klassen, sondern begleitet Schülerinnen und Schüler im regulären Unterricht. Die zentrale Aufgabe des CDV besteht darin, Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene mit Sehschwäche bedarfsgerecht pädagogisch, therapeutisch und technisch zu unterstützen.
In Luxemburg wird die Entwicklung barrierefreier Lehrmittel durch gesetzliche Vorgaben, ministerielle Steuerung und spezialisierte Einrichtungen systematisch gefördert. Die Einhaltung internationaler Standards gewährleistet dabei die Qualität und Zugänglichkeit der Bildungsangebote für alle Lernenden.
Wir am Medienzentrum des CDV erleben täglich, wie entscheidend barrierefreie Lehrmittel für den inklusiven Unterricht in Luxemburg sind. Da es hier keine separaten Einrichtungen für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung gibt, sondern alle Kinder und Jugendlichen in den Regelschulen gemeinsam lernen, müssen reguläre Lehrmaterialien in enormem Umfang und in höchster Qualität individuell angepasst werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass jede und jeder Lernende unabhängig von visuellen Einschränkungen gleichermassen und selbstständig am Unterricht teilnimmt.
Unser Medienzentrum gliedert sich in drei Servicebereiche, die eng verzahnt zusammenarbeiten. Der Transkriptionsdienst ist verantwortlich für die visuelle Adaptation gedruckter Dokumente, die Sicherstellung digitaler Barrierefreiheit und die Erzeugung von Braille-Ausgaben. Der Dienst Tactiped widmet sich dem professionellen Lehrmittelbau, der Dienst Softwareentwicklung und digitale Barrierefreiheit kümmert sich um die Erstellung massgeschneiderter Apps und Programme für den inklusiven Unterricht und evaluiert die Barrierefreiheit digitaler Onlineangebote. Schliesslich vereinen wir in diesen drei Bereichen das Know-how von 3D-Designer/innen, Grafik- und Kommunikationsdesigner/innen, Softwareingenieur/innen, Entwickler/innen, klassischen Grafiker/innen und Transkripteuren. Dieses interdisziplinäre Team garantiert, dass kreative Gestaltung, technische Machbarkeit und pädagogische Anforderungen von Anfang an in einem gemeinsamen Prozess berücksichtigt werden.
Neben der gestalterischen und technischen Expertise arbeiten wir mit unserem «Service Basse Vision» und einen neuropsychologischen Fachteam zusammen, die auf Grundlage funktionaler Diagnostik die individuellen Bedürfnisse und Transkriptionsprofile erstellen. In diesen Prozess sind ebenfalls pädagogische Fachkräfte involviert, welche das Transkriptionsprofil didaktisch vervollständigen. Hieraus entstehen konkrete Vorgaben (unterschiedlich für digital/physisch), wie etwa Schriftgrössen, Schriftarten, Seitenstrukturierung, Layout, Kontrastwerte bei Text/Bild oder die Beschaffenheit taktiler Elemente, die für einzelne Lernende notwendig sind. Diese enge Kooperation sorgt dafür, dass alle entwickelten Materialien nicht nur formal barrierefrei, sondern auch didaktisch sinnvoll und auf das jeweilige Lernziel zugeschnitten sind.
Lernmedien sollen nicht nur durch ihre formale Barrierefreiheit, sondern auch durch ihre didaktische Durchdringung, technische Präzision und individuelle Ausrichtung den inklusiven Unterricht in Luxemburg nachhaltig stärken.
Unsere kurzen Kommunikationswege unterstützen dabei die dynamische Weiterentwicklung aller Lehrmittel. Materialien werden in realen Unterrichtssituationen erprobt und innerhalb weniger Tage angepasst. Schülerinnen und Schüler erhalten ihre individuellen Versionen automatisch in der von ihnen bevorzugten Form, sei es im E-Book-Format, als interaktive PDF, als App auf dem Tablet oder als taktiles Modell für den direkten Einsatz im Klassenzimmer.
Die besondere Herausforderung – nicht nur in Luxemburg – besteht darin, dass barrierefreie Lehrmittel in inklusiven Klassen reibungslos funktionieren müssen. Das erfordert ein hohes Mass an Flexibilität und technischem Feingefühl, da sämtliche internen Kodierungen und Anpassungen dem inklusiven Unterricht gerecht werden müssen. Nur so kann ein einheitlicher Unterrichtsfluss gewährleistet werden.
Insgesamt zeigt unsere Arbeit am Medienzentrum des CDV, dass echte Inklusion nur durch intensive, pluridisziplinäre Zusammenarbeit erreichbar ist. Wir schaffen Lernmedien, die nicht nur formal barrierefrei sind, sondern durch ihre didaktische Durchdringung, technische Präzision und individuelle Ausrichtung den inklusiven Unterricht in Luxemburg nachhaltig stärken.
Kernelement von Lehrmitteln sind gute Lernaufgaben für alle Schülerinnen und Schüler. Wie müssen solche Lernaufgaben für alle ausgestaltet sein?
Ja, Kernelement wirksamer Lehrmittel sind sorgfältig konzipierte Lernaufgaben, die allen Schülerinnen und Schülern eine aktive, selbstgesteuerte und kompetenzorientierte Auseinandersetzung mit dem Lernstoff ermöglichen. In der Gestaltung solcher Aufgaben spiegelt sich die Qualität eines Lehrmittels ebenso wie dessen Beitrag zu inklusivem, differenzierendem und individualisiertem Unterricht wider. Der Anspruch, Lernaufgaben für alle zugänglich und lernwirksam zu gestalten, stellt daher ein zentrales Leitprinzip in der Entwicklung moderner digitaler Bildungsmedien dar. Im Rahmen des Erasmus+-Projekts DEM wird dieser Anspruch durch einen systematischen Entwicklungsprozess konkret umgesetzt, der sicherstellt, dass die entwickelten Aufgaben sowohl didaktisch fundiert als auch technisch barrierefrei sind.
Der Prozess beginnt mit der Ermittlung der Lernziele und Kompetenzen, die durch die jeweiligen Aufgaben gefördert werden sollen. Ausgangspunkt ist hier stets der europäische, nationale oder lokale koordinierte Kompetenzrahmen. Lernziele werden nicht nur deklarativ formuliert, sondern in konkrete Handlungskompetenzen übersetzt. Dabei steht im Vordergrund, welche kognitiven, sozialen oder motorischen Fähigkeiten Lernende durch die Auseinandersetzung mit den Aufgaben erwerben oder weiterentwickeln sollen. Dieser Schritt ist entscheidend, um eine zielgerichtete Auswahl und Gestaltung von Aufgabenformaten zu ermöglichen. Nur auf dieser Grundlage können Aufgaben entstehen, die lernwirksam, adaptiv und adressatengerecht sind.
An die Kompetenzermittlung schliesst sich die methodisch-didaktische Umsetzung an. Hierbei wird festgelegt, mit welchen didaktischen Strategien die identifizierten Lernziele konkret im Unterrichtsgeschehen realisiert werden sollen. Der Fokus liegt dabei auf der Aktivierung der Lernenden, der Ermöglichung von Kooperation, Reflexion und Problemlösen sowie auf der Integration von Differenzierungsmöglichkeiten. Besonders bei inklusiv gedachten Aufgabenformaten ist es zentral, die Unterschiedlichkeit der Lernvoraussetzungen und Lernwege zu berücksichtigen.
Der Anspruch, Lernaufgaben für alle zugänglich und lernwirksam zu gestalten, ist ein zentrales Leitprinzip in der Entwicklung moderner digitaler Bildungsmedien.
Darauf aufbauend erfolgt die Phase des didaktischen Designs, in der die konkrete Auswahl und Gestaltung von Aufgabentypen, Medien und Begleitmaterialien erfolgt. In dieser Phase werden die zuvor definierten didaktischen Intentionen in lernpraktische Umsetzungen überführt. Entscheidend ist hier, dass Aufgaben eine Balance zwischen Offenheit und Struktur aufweisen. Sie sollen zur Exploration anregen, aber auch klare Bearbeitungshinweise enthalten. Ebenso wichtig ist die mediale Umsetzung: Die Auswahl der Medien muss sich an den Anforderungen der Barrierefreiheit ebenso orientieren wie an den Prinzipien der Usability und der kognitiven Ergonomie. Das DEM-Projekt hebt hier die digitalen Formate hervor, welche hier besondere Chancen bieten: Interaktive Aufgaben, adaptive Hilfestellungen, auditive und visuelle Feedbacksysteme, Einsatz von KI und kontextsensitives Material werden gezielt so gestaltet, dass sie unterschiedliche Zugänge zu Inhalten ermöglichen. Auch klassische Aufgabenformate wie Zuordnungen, Multiple-Choice oder freie Texteingaben müssen hinsichtlich ihrer medialen Einbettung und technischen Umsetzung sorgfältig konzipiert werden, um inklusiv nutzbar zu sein.
In der anschliessenden Phase der technischen Umsetzung und des Designs wird sichergestellt, dass die entwickelten Aufgaben auf verschiedenen Endgeräten nutzbar sind. In enger Zusammenarbeit mit technischen Entwicklerteams und Accessibility-Spezialist/innen wird eine inklusive
User Experience umgesetzt, die unterschiedlichen sensorischen, motorischen und kognitiven Anforderungen gerecht wird.
Abschliessend erfolgt eine umfassende qualitative Prüfung der entwickelten Aufgaben. Diese beinhaltet sowohl die didaktisch-pädagogische Evaluation als auch die Testung auf technische sowie qualitative Barrierefreiheit.
Der Ansatz des Digital Accessible Publishing (DAP) bedeutet, dass Inklusion und Zugänglichkeit nicht exklusiv für bestimmte Nutzergruppen gestaltet werden, sondern als universelle Grundlage für alle Lernenden dienen.
Ein zentraler Aspekt der Entwicklung guter Lernaufgaben ist die konsequente Integration von Barrierefreiheit als durchgängiges Gestaltungsprinzip in allen Prozessschritten – von der Kompetenzermittlung bis zur Qualitätsprüfung. Barrierefreiheit darf nicht als nachträgliches Add-on verstanden werden, das erst am Ende eines Entwicklungsprozesses technisch ergänzt wird, sondern muss integraler Bestandteil jeder didaktischen, gestalterischen und technischen Entscheidung sein. Dieses Prinzip entspricht dem Ansatz des Digital Accessible Publishing (DAP), bei dem Inklusion und Zugänglichkeit nicht exklusiv für bestimmte Nutzergruppen gestaltet werden, sondern als universelle Grundlage für alle Lernenden dienen.
Die Bedeutung von Lernaufgaben für die Qualität von Lehrmitteln kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie sind das zentrale Bindeglied zwischen Lernzielen, Lehrstrategie und Schülerhandeln. Hochwertige Lernaufgaben strukturieren nicht nur den Lernprozess, sondern sie motivieren, fördern Eigenverantwortung, machen Fortschritte sichtbar und geben Lehrpersonen differenzierte Rückmeldung über den Lernstand.
Die Bedeutung von Lernaufgaben für die Qualität von Lehrmitteln kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie sind das zentrale Bindeglied zwischen Lernzielen, Lehrstrategie und Schülerhandeln.
Praktische Beispiele für derart konzipierte Lernaufgaben werden gegen Ende des Jahres im Rahmen der Prototypen des DEM-Projektes veröffentlicht und auf der Projektwebseite öffentlich zugänglich gemacht. Diese Beispiele veranschaulichen, wie der beschriebene Entwicklungsprozess in der Praxis umgesetzt wurde und welche Anforderungen an inklusive Lernaufgaben in der digitalen Bildung gestellt werden. Sie dienen damit nicht nur als Muster, sondern auch als Grundlage für die Weiterentwicklung und Implementierung barrierefreier, qualitativ hochwertiger digitaler Lehrmittel in europäischen Bildungskontexten.
Welchen Einfluss hat die digitale Transformation Ihrer Meinung nach auf die Entwicklung barrierefreier Lehrmittel?
Die digitale Transformation hat in den letzten Jahren tiefgreifende Veränderungen in der Bildungslandschaft bewirkt und eröffnet insbesondere im Bereich barrierefreier Lehrmittel weitreichende neue Möglichkeiten. Digitale Technologien erlauben es, Lehrmittel von Anfang an so zu gestalten, dass sie unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden – nicht nachträglich, sondern integrativ im Entwicklungsprozess. Das bedeutet, dass wir potenziell eine deutlich höhere Zugänglichkeit erreichen können als es bei klassischen, analogen Medien der Fall war. Während früher häufig individuelle Anpassungen nötig waren, die zeit- und ressourcenintensiv von Fachpersonal vorgenommen werden mussten, bieten digitale Formate – bei entsprechender Konzeption – von Beginn an vielfältige Zugangsmöglichkeiten: etwa durch Vorlesefunktionen, konfigurierbare Schriftgrössen, alternative Steuerungsmethoden oder visuelle und auditive Darstellungsvarianten sowie adaptives Lernen.
Der digitalen Wandel ist eine grosse Chance, denn digitale Lehrmittel eröffnen neue didaktische Zugänge und ermöglichen individualisiertes, adaptives Lernen auf einem bisher kaum erreichbaren Niveau.
Wir sind der Auffassung, dass sich nicht pauschal sagen lässt, digitale Lehrmittel seien grundsätzlich besser für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen geeignet als analoge. Vielmehr kommt es auf den individuellen Bedarf jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers an. Die optimale Lösung liegt in einer durchdachten Kombination verschiedener Lehrmittel, digital wie analog, die flexibel an die jeweiligen Voraussetzungen, Fähigkeiten und Lernstile angepasst wird. Pauschale Aussagen werden der Vielfalt der Bedürfnisse nicht gerecht und verkennen das Potenzial eines differenzierten, inklusiven Bildungsansatzes.
Insgesamt sehen wir im digitalen Wandel eine grosse Chance. Digitale Lehrmittel eröffnen neue didaktische Zugänge und ermöglichen individualisiertes, adaptives Lernen auf einem bisher kaum erreichbaren Niveau. Damit dies auch für alle Lernenden gilt, müssen Barrierefreiheit und Inklusion jedoch als integrale Bestandteile von Beginn an mitgedacht und professionell umgesetzt werden.
Gemäss Vertrag von Marrakesch, welchen sowohl Luxemburg als auch die Schweiz ratifiziert haben, ist die Bereitstellung barrierefreier Lehrmittel eine Aufgabe aller Akteure im Bildungssystem. Welche Aufgaben kommen Ihrer Meinung nach den jeweiligen Akteuren zu?
In Luxemburg wurde der Vertrag von Marrakesch durch das Gesetz vom 3. April 2020 national umgesetzt. Dieses Gesetz regelt die Ausnahme vom Urheberrecht zugunsten von Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung. Es erlaubt nationalen befugten Stellen, Werke in barrierefreie Formate umzuwandeln und weiterzugeben, ohne dass eine Genehmigung der Rechteinhaber erforderlich ist. Mit der Umsetzung des Marrakesch-Vertrags wurde erstmals eine klare rechtliche Grundlage geschaffen, auf deren Basis die Akteure des Bildungssystems aktiv und koordiniert zur Bereitstellung barrierefreier Lehrmittel beitragen können. Daraus ergeben sich konkrete Aufgaben und Verantwortlichkeiten für verschiedene Akteursgruppen im luxemburgischen Bildungssystem.
Zunächst sind die Verlage in der Pflicht. Sie müssen sich strukturell und konzeptionell auf die Erstellung barrierefreier Inhalte einstellen. Das bedeutet mehr als die blosse Bereitstellung digitaler Versionen traditioneller Printlehrmittel. Eine zentrale Anforderung des barrierefreien Designs ist die konsequente Trennung von Inhalt und Layout. Nur so können Fachstellen wie das CDV überhaupt gezielt in den Produktionsprozess eingreifen und notwendige Anpassungen vornehmen, etwa die Übertragung in Brailleschrift oder die Erstellung visuell adaptierter Versionen. Diese strukturelle Offenheit muss bereits in der initialen Produktion durch die Verlage angelegt sein. Langfristig ist ein Paradigmenwechsel notwendig: Digitale Lehrmittel dürfen nicht länger nur als «Zweitverwertung» analoger Medien betrachtet werden, sondern müssen als eigenständige, adaptive und modular aufgebaute Bildungsressourcen konzipiert werden.
Eine zentrale Anforderung des barrierefreien Designs ist die konsequente Trennung von Inhalt und Layout. Dementsprechend dürfen digitale Lehrmittel nicht länger nur als „Zweitverwertung“ analoger Medien betrachtet werden, sondern müssen als eigenständige, adaptive und modular aufgebaute Bildungsressourcen konzipiert werden.
Das CDV selbst trägt die Verantwortung, diese Materialien zu adaptieren, bereitzustellen und zu verbreiten. Auch wenn Verlage künftig barrierefreie Masterversionen liefern, bleibt die Aufgabe bestehen, spezifische Formate für verschiedene Nutzergruppen zu erstellen (etwa Grossdruck, Braille oder taktile Grafiken). Dazu sind sowohl pädagogisch-didaktische, als auch technische Kompetenzen notwendig.
Ebenso unverzichtbar ist spezialisiertes Wissen im Bereich Low Vision sowie über Anpassungen für Kinder mit visuellen Wahrnehmungsstörungen. Das CDV muss daher über Fachpersonal verfügen, das sowohl in der Medienbearbeitung als auch in barrierefreier Gestaltung geschult ist. Gleichzeitig benötigt die Einrichtung eine aktuelle, leicht zugängliche und digital durchsuchbare Übersicht über alle verfügbaren barrierefreien Lehrmittel, damit Schulen, Lehrpersonen und Erziehungsberechtigte sich informieren und gezielt Materialien anfordern können.
Darüber hinaus sind Expertise und interdisziplinäre Zusammenarbeit gefordert. Die Erstellung vollständig barrierefreier digitaler Lehrmittel erfordert nicht nur Kenntnisse im Bereich der digitalen Barrierefreiheit, sondern auch Beiträge von UX-Designer/innen, Grafiker/innen sowie von Fachpersonen mit pädagogischer und inklusiver Expertise. Nur durch das Zusammenspiel dieser Kompetenzen kann gewährleistet werden, dass Lehrmittel nicht nur technisch zugänglich, sondern auch didaktisch sinnvoll und in ihrer Gestaltung an die Bedürfnisse der Zielgruppen angepasst sind.
Auch die Schulen selbst und ihre Lehrpersonen sind zentrale Akteure. Sie müssen lernen, barrierefreie Materialien in ihre Unterrichtsvorbereitung und -gestaltung zu integrieren und deren Potenziale zu nutzen. Dafür benötigen sie Schulungen und Zugang zu Unterstützungsangeboten. Lehrerinnen und Lehrer sollten ausserdem befähigt werden, die Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler im Bereich der Zugänglichkeit zu erkennen und gezielt zu artikulieren, um passgenaue Materialien anfordern zu können.
Der Vertrag von Marrakesch schafft in Luxemburg die rechtliche Grundlage für eine koordinierte, bedarfsorientierte und rechtssichere Bereitstellung barrierefreier Lehrmittel.
Schliesslich kommen auch den betroffenen Personen selbst sowie deren Familien eine aktive Rolle zu. Sie sind nicht nur Empfängerinnen und Empfänger der barrierefreien Materialien, sondern auch wichtige Rückmeldeinstanzen. Ihre Perspektiven müssen systematisch in die Evaluation und Weiterentwicklung barrierefreier Lehrmittel einfliessen, um reale Bedarfe adäquat zu adressieren.
Insgesamt schafft der Marrakesch-Vertrag in Luxemburg die rechtliche Grundlage für eine koordinierte, bedarfsorientierte und rechtssichere Bereitstellung barrierefreier Lehrmittel. Diese neue Realität verpflichtet alle Akteure des Bildungssystems von den Verlagen über Fachstellen und Ministerien bis hin zu den Schulen zum Umdenken und zur aktiven Mitgestaltung eines inklusiven Bildungswesens.
Was hat sich Ihre Meinung nach bezüglich barrierefreier Lehrmittel in den vergangenen Jahren verbessert? Wo sehen Sie weiteres Potenzial für die Zukunft? Und welchen Beitrag kann Ihre Institution diesbezüglich leisten?
In den vergangenen Jahren haben sich im Bereich barrierefreier Lehrmittel in Luxemburgzahlreiche Fortschritte vollzogen, die sowohl technologischer als auch gesetzlicher Natur sind. Diese Entwicklungen markieren einen signifikanten Wandel in der Bildungslandschaft und schaffen erstmals stabile strukturelle Voraussetzungen für eine inklusivere schulische Praxis. Insbesondere der technologische Fortschritt hat die Möglichkeiten zur Erstellung, Adaptation und Verbreitung barrierefreier Inhalte erheblich erweitert. Digitale Lehrmittel lassen sich heute weit flexibler gestalten als ihre analogen Vorgänger: Inhalte können beispielweise skaliert, kontrastreich dargestellt, synthetisch vorgelesen, in Braille übersetzt oder mit taktilen und auditiven Zusatzinformationen angereichert werden. Assistive Technologien wie Bildschirmleser oder Vergrösserungssoftware sind heute leistungsfähiger, kostengünstiger und besser in bestehende Systeme integrierbar als je zuvor.
Parallel dazu haben sich gesetzliche Rahmenbedingungen deutlich zugunsten der Barrierefreiheit verändert. Die Ratifizierung des Übereinkommens von Marrakesch und seine nationale Umsetzung in Luxemburg haben eine klare rechtliche Grundlage geschaffen, auf deren Basis barrierefreie Lehrmittel nicht nur ermöglicht, sondern verpflichtend vorgesehen sind. Damit ist Barrierefreiheit nicht länger eine freiwillige Zusatzleistung einzelner Akteure, sondern eine normative Anforderung an alle Beteiligten im Bildungssystem, insbesondere an Verlage, öffentliche Einrichtungen und Schulen. Diese rechtliche Klarheit ist ein bedeutender Fortschritt, da sie institutionelle Verantwortlichkeiten definiert und Handlungssicherheit schafft.
Ein weiterer positiver Trend ist die zunehmende Verbreitung digitaler Technologien in Schulen. Die Digitalisierung des Unterrichts führt dazu, dass digitale Lehrmittel heute häufiger genutzt werden, was prinzipiell eine gute Ausgangslage für barrierefreies Design bietet. Plattformen, Lernmanagementsysteme und digitale Schulbücher können durch gezielte Gestaltung barrierefrei gemacht und somit einem grösseren Personenkreis zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig hat die verstärkte Nutzung digitaler Medien zu einer höheren Sensibilisierung bei Lehrpersonen geführt, was wiederum die Akzeptanz barrierefreier Materialien im Schulalltag erhöht.
Digitale Lehrmittel lassen sich heute weit flexibler gestalten als ihre analogen Vorgänger: Inhalte können beispielweise skaliert, kontrastreich dargestellt, synthetisch vorgelesen, in Braille übersetzt oder mit taktilen und auditiven Zusatzinformationen angereichert werden.
Trotz dieser Fortschritte besteht weiterhin erhebliches Potenzial für Verbesserungen. Besonders im Hinblick auf die konsequente Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen durch alle beteiligten Akteure gibt es noch deutliche Lücken. Zwar sind die Rahmenbedingungen geschaffen, doch fehlt es vielerorts an systematischer Umsetzung. Verlage stehen weiterhin vor der Herausforderung, ihre Produktionsprozesse an barrierefreie Standards anzupassen. Eine zentrale Anforderung ist dabei die Trennung von Inhalt und Layout, um die Bearbeitung und Adaption durch Fachstellen technisch überhaupt zu ermöglichen. Solange Lehrmittel lediglich als digitale Kopien analoger Bücher produziert werden, bleibt der Zugang für viele Schülergruppen eingeschränkt.
Ein vielversprechendes Zukunftsfeld liegt im Bereich der Künstlichen Intelligenz. KI-basierte Tools können in Zukunft eine wichtige Rolle bei der automatisierten Generierung, Anpassung und Übersetzung barrierefreier Inhalte spielen – etwa durch automatische Texterkennung, Sprachsynthese, Bildbeschreibung oder Layout-Anpassung. Richtig eingesetzt, könnten solche Systeme den Arbeitsaufwand deutlich reduzieren und eine grössere Breite an barrierefreien Lehrmitteln in kürzerer Zeit ermöglichen. Voraussetzung dafür ist allerdings eine enge Zusammenarbeit zwischen Technologieentwickler/innen Pädagog/innen und Fachstellen, um sicherzustellen, dass technische Innovationen tatsächlich zu didaktisch sinnvollen und qualitativ hochwertigen Lösungen führen.
Die zunehmende Komplexität digitaler Bildungsmedien erfordert ein hohes Mass an Spezialisierung, das kein einzelner Berufsstand allein abdecken kann: Pädagog/innen, Transkripteur/innen, Grafiker/innen, Low-Vision-Expert/innen, Fachdiagnostiker/innen, UX-Designer/innen und IT-Fachleute müssen gemeinsam an der Entwicklung und Umsetzung barrierefreier Lösungen arbeiten.
Das CDV wird in Luxemburg auch künftig eine Schlüsselrolle in diesem Transformationsprozess einnehmen. Als nationales Kompetenzzentrum trägt das CDV besondere Verantwortung für die Transkription, Adaption und Bereitstellung barrierefreier Lehrmittel. Seine Rolle geht jedoch über die reine Materialproduktion hinaus. Das CDV muss weiterhin Vorreiter sein in Fragen der digitalen Barrierefreiheit, Standards setzen, mit gutem Beispiel vorangehen und andere Akteure durch Schulung, Beratung und Kooperation unterstützen. Besonders wichtig ist auch die kontinuierliche Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Nur so kann ein inklusives Bildungssystem nachhaltig verankert werden.
Ein exemplarisches Beispiel für die Wirksamkeit solcher Bemühungen ist das Erasmus+-Projekt DEM. Es liefert nicht nur praxisnahe Beispiele, sondern auch methodische Grundlagen, an denen sich künftige Projekte orientieren können. Projekte dieser Art sind essenziell, um neue Standards zu etablieren, Best Practices zu verbreiten und strukturelle Barrieren abzubauen.
Abschliessend lässt sich feststellen, dass die Weiterentwicklung barrierefreier Lehrmittel nur gelingen kann, wenn Expertise aus verschiedenen Fachrichtungen systematisch zusammengeführt wird. Die zunehmende Komplexität digitaler Bildungsmedien erfordert ein hohes Mass an Spezialisierung, das kein einzelner Berufsstand allein abdecken kann. Pädagog/innen, Transkripteur/innen, Grafiker/innen, Low-Vision-Expert/innen, Fachdiagnostiker/innen, UX-Designer/innen und IT-Fachleute müssen gemeinsam an der Entwicklung und Umsetzung barrierefreier Lösungen arbeiten. Nur in diesem interdisziplinären Zusammenspiel lässt sich das volle Potenzial digitaler Lehrmittel ausschöpfen für ein Bildungssystem, das wirklich allen Lernenden gerecht wird.
Portrait des Autors
Tom Erdel ist Koordinator der Transkriptionsabteilung des Centre pour le développement des compétences relatives à la vue (CDV) in Luxemburg.
→ Portrait
Literatur
CAST (2018). Universal Design for Learning Guidelines version 2.2. Wakefield, MA: CAST.
Serke, J., & Streese, B. (2022). Inklusion gemeinsam gestalten: Teamarbeit in multiprofessionellen Kontexten. Weinheim: Beltz.

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