Lernen am gemeinsamen Gegenstand stellt ein Ideal des inklusiven Unterrichts dar. Silvia Pool Maag, Professorin für Sonderpädagogik und Christian Mathis, Professor für Didaktik der Geschichte und Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG), erklären, was Lernen am gemeinsamen Gegenstand aus sonderpädagogischer und fachdidaktischer Perspektive bedeutet, wie inklusive Lehr- und Lernsettings aus ihrer Sicht aussehen und warum Lehrmittel wichtig für guten inklusiven Unterricht sind.
Silvia Pool Maag, Christian Mathis, was sind aus Ihrer Sicht Merkmale von gutem inklusivem Unterricht?
Silvia Pool Maag (SPM): Guter inklusiver Unterricht ist strukturierter Unterricht, der den Raum als dritten und die Digitalität als vierten Pädagogen nutzt und von den Lernbedarfen der Schülerinnen und Schüler ausgeht. Nach Bedarf wird er in Kooperation mit pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen geplant oder im Co-Teaching durchgeführt. Die Lebenswelt und die Lernenden sind Ausgangspunkt für fachliches und überfachliches Wissen (was wir wissen sollten), für die Entwicklung von Fähigkeiten (wie wir nutzen, was wir wissen), die Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung (wie wir uns in der Welt verhalten und handeln) und der Reflexionsfähigkeit (wie wir reflektieren und uns anpassen), wie Fadel und Kollegen festhalten. Lernaufgaben sind für alle zugänglich und Lernerfolge werden gesichert. Gemeinsames, kooperatives und individuelles Lernen werden ermöglicht und Selbststeuerung sowie Selbstdifferenzierung gefördert.
Christian Mathis (CMT): Dem kann ich zustimmen. Bei der Strukturierung fokussieren wir Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker darauf, dass der Aufbau und die Teilelemente des zu lernenden Wissens und Könnens (wie man Wissen nutzt) so angeordnet werden, dass das Lernen optimal gelingen kann. Dazu kann der Raum und die Digitalität unterstützend eingesetzt werden.
Wir unterscheiden zwischen Alltags- und Lebenswelt. Die Alltagswelt bietet und ermöglicht den Kindern und Jugendlichen konkrete Erfahrungen. Die Lebenswelt geht über die Alltagswelt hinaus. Dazu gehören die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen des Alltags. Der Lebenswelt- und der Alltagsweltbezug helfen den Lernenden, den Gegenstand als sinnvoll und für sich – auch im Hinblick auf ihre Zukunft – bedeutsam zu verstehen.
Lernaufgaben sind für alle zugänglich und auch bearbeitbar. Dazu sollten die alltagsweltlichen, möglichst körperlichen Erfahrungen der Lernenden den Ausgangspunkt der Lernprozesse bilden. Anschliessend kann darauf aufbauend differenzierend und individualisierend weitergelernt werden. Der erfahrungsorientierte und handlungsorientierte Unterricht soll im Sinne von Hans Aeblis «Denken ist das Ordnen des Tuns» gestaltet sein. Wichtig ist auch, dass der Lernerfolg für die Schülerinnen und Schüler sichtbar (gemacht) wird.
Aus Sicht von Georg Feuser ist der gemeinsame Gegenstand kein «Unterrichtsgegenstand», wie oft angenommen wird, sondern eine Erkenntnis, ein fachlicher Kerngedanke, der in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem bildungsrelevanten Inhalt entsteht.
Lernen am gemeinsamen Gegenstand, ein Konzept des deutschen Erziehungswissenschaftlers Georg Feuser (2017), stellt ein Ideal des inklusiven Unterrichts dar. Teilen Sie seine Meinung?
SPM: Mir gefällt, dass die Arbeit am gemeinsamen Gegenstand von einer kooperativen und ergebnisoffenen Lernsituation ausgeht, in der die Ressourcen der Lernenden im Vordergrund stehen. Der gemeinsame Gegenstand ist kein «Unterrichtsgegenstand», wie oft angenommen wird, sondern eine Erkenntnis, ein fachlicher Kerngedanke, der in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem bildungsrelevanten Inhalt entsteht, zum Beispiel das Hantieren mit Gegenständen in der Mathematik, um den Mengenbegriff aufzubauen und das «Teil-Ganze-Konzept» zu erkunden. Nach Georg Feuser ist Projektunterricht ein ideales Setting für diese Bildungserfahrung. Hier setzt auch die Kritik am Konzept an – weniger meine Kritik als vielmehr diejenige der scientific community – dass Projektunterricht nicht die Methode des alltäglichen Unterrichts an Schulen darstellt.
Welche Konzepte von inklusivem Unterricht sind für Sie bzw. die Sonderpädagogik weiter wichtig?
SPM: Simone Seitz nennt diese oben beschriebene Erkenntnis «Kern der Sache» (2009). Der Kern der Sache aus Kindersicht kann von Annahmen der Lehrperson über eine Sache abweichen. Der Ansatz lässt sich erkenntnistheoretisch und didaktisch verorten. Der Alltags- und Lebensweltbezug zeigt sich in der Art und Weise, wie Lernende an Aufgaben herangehen und diese bearbeiten. Darin ist die erwartete Kompetenz in Fraktalen bereits angelegt. Die pädagogisch-didaktische Aufgabe ist nun, an dieses «anfängliche Wissen und Können», das aus Alltags- und Bildungserfahrungen resultiert und sich in der Bearbeitung zeigt, anzuschliessen und es geschickt weiterzuentwickeln.
Der Ansatz der «Gemeinsame Lernsituationen» von Hans Wocken (1998) ist aus inklusionspädagogischer Sicht weitreichend, weil er sowohl Massnahmen für individuelles wie für gemeinsames Lernen beschreibt und Lernzieldifferenzierung wie auch Formen der individuellen Unterstützung einbezieht (z.B. Assistenz, besondere Lernmaterialien, individuelle Rahmenbedingungen).
Ein aktuell vieldiskutierter Zugang ist das Universal Design for Learning (UDL) von CAST (2023). Das Framework geht konsequent von den Lernenden und ihren Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen aus, erhöht Partizipationsmöglichkeiten im Unterricht und zielt auf möglichst barrierefreies Lernen. Berücksichtigt werden Interessen und Motive der Lernenden sowie unterschiedliche fachliche Zugänge und Lernaktivitäten. Evidenzbasierte Massnahmen und Ansatzmöglichkeiten, sogenannte Checkpoints, unterstützen eine adaptive Unterrichtsplanung im Kontext von vielfältigen Lernausgangslagen und Lernbedarfen.
Respons-to-Intervention (RTI) schliesslich ist ein förderorientierter Ansatz aus der Sonderpädagogik, der auf die Lernverlaufsdiagnostik und den evidenzbasierten Einsatz von Unterrichts- und Förderverfahren fokussiert (Huber & Grosche 2012). Ziel ist, Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen, passgenau Massnahmen zu entwickeln und die Lernentwicklung regelmässig zu überprüfen.
Lernen am gemeinsamen Gegenstand wird beispielweise in der Mathematik zur Weiterentwicklung des inklusiven Unterrichts genutzt (z.B. Schöttler 2019). Wie ist das im Fachbereich NMG?
CMT: Der gemeinsame Gegenstand ist aus Sicht der Fachdidaktik NMG ein gemeinsamer Lerngegenstand. Dieser gemeinsame Lerngegenstand ist für Lehrpersonen im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft (oder Geschichte) oft nicht so leicht zu definieren. Bei der Suche nach dem «Gemeinsamen» helfen zum Beispiel sogenannte Basiskonzepte. Diese Konzepte bilden den epistemischen Kern des Fachs. Das heisst, sie helfen das Wissen und Können fächerspezifisch zu organisieren und das Denken in den jeweiligen Domänen zu strukturieren, sie helfen, die Welt aufzuräumen. Ein konkretes Beispiel: Im Fach Geschichte geht es im Wesentlichen darum, Wandel und Kontinuitäten – also unterschiedliche Veränderungsgrade, -richtungen und -geschwindigkeiten – zu erkennen, zu verstehen und zu erzählen. Der gemeinsame Gegenstand wäre also das Erforschen und Entdecken, Verstehen, Darstellen und Erzählen von Veränderungen. Im Sinne von Simone Seitz zeigt sich in den Herangehensweisen und auch in den bereits vorhandenen Wissensbeständen der Schülerinnen und Schüler auch Unerwartetes oder von der Wissenschaft als nicht (mehr) aktuelles Wissen definiertes Wissen. Diese Eigensinnigkeiten verstehen die Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker als Chancen für Lernprozesse, weil den Schülerinnen und Schülern davon ausgehend mögliche «Brücken» gebaut werden können.
Der gemeinsame Gegenstand im Fachbereich NMG ist zum Beispiel das Erforschen und Entdecken, Verstehen, Darstellen und Erzählen von Veränderungen, also von unterschiedlichen Veränderungsgraden, -richtungen und -geschwindigkeiten.
In NMG kann der gemeinsame Gegenstand auch eine Geschichte sein. Das kann eine historische Erzählung oder eine Lebensgeschichte einer Person sein. Die Schülerinnen und Schüler können dann individuell, gemeinsam oder kooperativ unterschiedliche Dimensionen oder Aspekte untersuchen. Dabei kann der Komplexitätsgrad variieren, was eine Differenzierung ermöglicht.
Eine Herausforderung besteht darin, dass wenn man das Fach und die entsprechende Fachsprache (Bildungssprache) zu stark fokussiert, gewisse Schülerinnen und Schüler mit anderen Alltagserfahrungen und eigensinnigen – also eigenen und für sie sinnigen – Objektbezeichnungen übergangen und abgehängt werden.
Eine Voraussetzung für inklusiven Unterricht sind sogenannte inklusive Lehr- und Lernsettings (Frohn et al. 2019). Wie sieht ein solches Setting aus? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Rolle der Lehrperson?
SPM: Inklusive Lehr-/Lernsetting umfassen Einheiten des gemeinsamen und des individuellen Lernens. Es ist an gemeinsamen und individuellen Lernzielen orientiert und materiell sowie personell unterstützt wo nötig, um Kompetenzentwicklung und soziale Integration zu fördern und Selbstwirksamkeit zu ermöglichen (z.B. mithilfe von Massnahmen des UDL). Für die Kompetenzentwicklung wird auf eine systematische Lernverlaufsdiagnostik gesetzt, es werden lehrplanbezogene und individuelle Lernziele didaktisch integriert und der Unterricht an die besonderen situativen und individuellen Bedarfe in der Klasse angepasst, d.h. differenziert (z.B. Visualisierungen, didaktische Hilfsmittel, Supportsysteme, inhaltliche Vereinfachungen, leichte Sprache, technische Tools).
Inklusive Lehr-/Lernsetting umfassen Einheiten des gemeinsamen und des individuellen Lernens – und es ist an gemeinsamen und individuellen Lernzielen orientiert.
Letztlich umfassen inklusive Lernsettings auch Formen der Zusammenarbeit mit Fachpersonen und Assistenzen sowie nach Bedarf Co-Teaching. Lernlandschaften, die strukturiertes und offenes, gemeinsames und individuelles sowie selbst- und fremdbestimmtes Lernen ermöglichen, unterstützen eine flexible Umsetzung. Im Churermodell der Binnendifferenzierung lässt sich dieses Classroom-Management zwischen Inputorientierung, Selbstbestimmung und Lernprozessbegleitung erfahrungsgemäss gut umsetzen.
CMT: Das hat Konsequenzen für das eigene Classroom-Management. Damit die Klasse optimal geführt werden kann, muss die Sache sorgfältig geklärt sein. Nur so ist der Kopf fürs «managing» der Klasse frei. Wenn die Lehrperson die Sache nicht geklärt hat, läuft sie Gefahr, gewisse Fragen der Kinder oder auch Seitengespräche als Störungen, anstatt als ein Mitdenken der Schülerinnen und Schüler zu diagnostizieren («Das gehört jetzt nicht dazu.»). So erzeugt das Lehrpersonenverhalten die Störung und nicht die Schülerinnen und Schüler. Der Lernbedarf der Schülerinnen und Schüler kann nur erkannt werden, wenn man den Gegenstand selbst durchdrungen hat. Sonst bleibt die Gefahr, dass der Unterricht nur durch die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler gesteuert wird. Ein Beispiel: Es geht in NMG um Haustiere. Die Kinder sitzen im Kreis. Die Lehrperson zielt auf die Sammlung von Erfahrungen mit unterschiedlichen Arten von Haustieren. Eine Schülerin sagt plötzlich: «Meine Grossmutter hat einen Pudel mit violetten Haaren.» Einige lachen, andere beginnen nachzufragen oder bringen eigene Beispiele. Anstatt zu erkennen, dass die Aussage des Kindes eine Brücke zum Aspekt der Vermenschlichung von Haustieren darstellt, erkennt die Lehrperson eine irrelevante Aussage, die nicht dazu passt.
Was bedeutet das für die Lehrmittel?
CMT: Lehrkommentare sollten eine gewisse Offenheit gegenüber eigensinnigen Lernwegen und Begrifflichkeiten von Schülerinnen und Schüler andeuten und Hilfen für den Brückenbau zum kindlichen Denken bereitstellen. Diese Fähigkeit, die Brücke zwischen dem Vorwissen der Kinder und der erforderlichen Fachlichkeit für Lernende zu bauen, sollte auch Schwerpunkt in der fachdidaktischen Ausbildung von Lehrpersonen sein.
SPM: Individuelle Zugänge berücksichtigen und Zugang zu Lerninhalten schaffen sind auch aus sonderpädagogischer Sicht wichtige Voraussetzungen für guten Unterricht. Zugleich sollten Studierende in ihren Praktika lernen, vielfältige Lerngruppen zu unterrichten und üben, Unterricht mithilfe von inklusiven Konzepten wie UDL zu planen. Dafür ist es notwendig – und das ist ein wichtiger Bezug zur Aussage aus der Fachdidaktik – dass Studierende die Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen der Kinder in den zu unterrichtenden Klassen kennen und wissen, wie der Erwerb bestimmter fachlicher Kompetenzen davon beeinflusst wird und welche pädagogisch-didaktischen Massnahmen bei besonderen Begabungen wie bei Erschwernissen zu ergreifen sind.
Von Lehrpersonen gefordert werden zugängliche Lernaufgaben für individuelle und kooperative Lerngelegenheiten und vielfältiges Arbeits- und Übungsmaterial für Vertiefungen und Ausarbeitungen. Bildungsmedien sollten auch die fachliche Kooperation und Accessibility für verschiedene Professionen vorsehen, denn die Logopädie arbeitet auch an Kompetenzen des Lehrplans 21, die Psychomotorik an entwicklungsorientierten Zugängen und Eltern von Kindern zum Beispiel mit besonderem Bildungsbedarf brauchen einen unkomplizierten Zugang zu Übungs- und Fördermaterialien. Digitale Medien, assistive Technologien und universelle Designs gehören zur Grundausstattung im inklusiven Unterricht und sind wesentliche Voraussetzung für die Tragfähigkeit von Heterogenität beim gemeinsamen und individuellen fachlichen und überfachlichen Lernen.
Lernen am gemeinsamen Gegenstand, so Georg Feuser, kann eher mit themen- und projektorientiertem als mit fachorientiertem Unterricht umgesetzt werden (Häcker et al. 2024). Unterstützen Sie aus Sicht der Sonderpädagogik bzw. aus Sicht der Fachdidaktik diese Sichtweise?
SPM: Gegenstand jeden Unterrichts ist Bildung und damit sowohl Fachlichkeit als auch überfachliche Kompetenzen. Deshalb würde ich die Projektmethode nicht mit dem gemeinsamen Gegenstand gleichsetzen. Die Projektmethode steht für eine Lernaufgabe mit offenem Ausgang. Diese Ergebnisoffenheit bietet in heterogenen Lernkontexten die Chance, den Lernprozessen und der Verschiedenheit der Zugänge der Kinder Raum zu geben. Offenheit ermöglicht, dass Kinder den Lernprozess mit ihren Ressourcen mitgestalten können, ohne dabei etwas falsch zu machen oder den Prozess zu behindern. Im Verständnis von Feuser ist der gemeinsame Gegenstand kein gemeinsames Thema, obwohl er oft so zitiert wird. Das Gemeinsame ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit einem Thema und die gemeinsame Lernerfahrung. Das ist nach Feuser Integration, und deshalb ist sie für ihn unteilbar.
CMT: Das projektorientierte Lernen lässt konkrete Ziele offen. Dabei stehen Autonomie- und Interessenförderung im Zentrum. Es stärkt die Selbstständigkeit. Gleichzeitig kann es motivierend sein, weil man seinen Interessen nachgehen kann. Sicher ist es für Schülerinnen und Schüler jedoch aufgrund der hohen Selbststeuerung und Selbstorganisation herausfordernd und anspruchsvoll. Ebenso wird die fachliche Lernbegleitung durch die Lehrperson komplexer und anspruchsvoller. Fachorientiertes Lernen zielt auf zentrale Konzepte des Fachs und damit auf die künftige Teilhabe in Gesellschaft sowie Emanzipation. Das ist für mich als Fachdidaktiker keine Entweder-Oder-Frage, sondern es geht vielmehr darum, eine gute Balance zu finden und projektartiges Lernen zu wagen. Handlungsleitend kann neben einer Bedürfnisabklärung bei den Schülerinnen und Schülern eine sorgfältige Bedarfsabklärung sein. Oft ist es aus fachdidaktischer Perspektive so, dass man zuerst erfahrungs- und handlungsorientiert Begrifflichkeiten und Basiskonzepte erarbeitet und anschliessend die Schülerinnen und Schüler im projektartigen Unterricht interessengesteuert weiterlernen lässt.
Welche Bedeutung haben Lehrmittel aus Sicht der Sonderpädagogik und der Fachdidaktik für guten inklusiven Unterricht?
SPM: Lehrmittel erfüllen eine wichtige Rolle! Lehrmittel sind analoge und digitale Bildungsmedien und wichtige Steuerungselemente zwischen Lehrplan, Fachlichkeit, Lernenden und Unterricht. Gute Bildungsmedien unterstützen Lehrpersonen beim Unterrichten und Lernende beim selbstgesteuerten Lernen (z.B. Aufgaben auswählen und umsetzen, Themen selbst entwickeln, Inhalte weiterdenken). Lehrmittel für inklusiven Unterricht sollten gewisse Anforderungen erfüllen: Lernen am gemeinsamen Gegenstand ermöglichen, natürliche Differenzierung für die Didaktisierung von Lernprozessen nutzen und die individuelle Lernprozessbegleitung sowie die qualitative Differenzierung unterstützen (z.B. sprachliche Vereinfachungen und Entlastungen, Anpassungen der Aufgabenschwierigkeit, Variation des Aufgabentypus, Differenzierung der Sozialformen, Medien und Hilfsmittel). Die Vielfalt der Lernausgangslagen im inklusiven Unterricht erfordert zugängliche Lernaufgaben für individuelles und kooperatives Lernen und vielfältiges Arbeits- und Übungsmaterial für Vertiefungen und Ausarbeitungen.
Lehrmittel erfüllen eine wichtige Rolle für guten inklusiven Unterricht: Sie sind wichtige Steuerungselemente zwischen Lehrplan, Fachlichkeit, Lernenden und Unterricht.
CMT: Die aktuellen unterrichtsleitenden Lehrmittel wurden von Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern, Lehrpersonen sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen in einer koordinierten Zusammenarbeit entwickelt. Sie fokussieren neben dem vollständigen, logisch aufgebauten Lernprozess für die Schülerinnen und Schüler auf die Aufgaben. Das ist für einen kumulativen Kompetenzaufbau zentral. Aufgaben leiten an Stelle der Lehrperson diesen Lernprozess auf Mikroebene an und unterstützen den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler. Die Aufgaben in den neuen Lehrmitteln helfen also, die Lernenden ins Zentrum der Unterrichtsstrukturierung zu setzen. Zudem stellen die Lehrmittel in den Lehrkommentaren und Onlineplattformen zusätzliche, darauf abgestimmte und aufbauende Lern- und Übungsaufgaben zur Verfügung. Deshalb eignen sich meines Erachtens diese Lehrmittel als gute Grundlage für die Arbeit am (gemeinsamen) Gegenstand. Von ihnen ausgehend, kann leicht differenziert und individualisiert werden.
Unterrichtsleitende Lehrmittel fokussieren neben dem vollständigen, logisch aufgebauten Lernprozess für die Schülerinnen und Schüler auf die Aufgaben. Das ist für einen kumulativen Kompetenzaufbau zentral, denn Aufgaben leiten an Stelle der Lehrperson den Lernprozess auf Mikroebene an.
Silvia Pool Maag, Sie sagen in einem Artikel (2024): «Lehrmittel sollten (…) für das kooperative Lernen am gemeinsamen Gegenstand geeignete Lernaufgaben zur Verfügung stellen.» Wie sehen solche geeigneten Lernaufgaben aus sonderpädagogischer und aus fachdidaktischer Sicht konkret aus?
SPM: Aus sonderpädagogischer Sicht entsteht eine Erkenntnis oder ein fachlicher Kerngedanke dann, wenn Lernende gemeinsam nachdenken und Probleme lösen. Eine solche in Partnerarbeit zu bearbeitende Aufgabe im Mathematikunterricht könnte wie folgt lauten: «Legt 100 Kapla Hölzer so auf diesen Tisch, dass andere Kinder schnell erkennen können, dass es genau 100 sind.» Lernaufgaben, die dem Prinzip der natürlichen Differenzierung folgen, sind nicht nach Lern- oder Entwicklungsniveau differenziert, sondern berücksichtigen die Zugangsweisen der Kinder zu Lerninhalten und ermöglichen verschiedene Lösungswege. Die Zugangsweisen sind meist ähnlicher, als man aufgrund der Verschiedenheit der Kinder erwarten würde, wie Simone Seitz betont. An Kompetenzen, die sich in der Auseinandersetzung mit der Lernaufgabe zeigen, wäre didaktisch anzusetzen. Eine substanzielle Lernaufgabe mit natürlicher Differenzierung ist gehaltvoll, aktivierend, hat ein niedriges Einstiegsniveau, ist variierbar und adaptierbar, offen, kooperativ bearbeitbar und geeignet für Reflexion.
CMT: Ich würde noch ergänzen, dass aus Sicht der Fachdidaktik, gemeinsame und geteilte Erfahrungen mit dem Gegenstand wichtig sind, damit in der Klasse alle vom Gleichen reden können. Vor der von Silvia Pool Maag genannten Problemstellung sollen die Kinder mit den Kapla-Hölzern frei experimentieren, ausprobieren, pröbeln können. Dabei müssen sie ihren Körper und nicht nur die Hände einsetzen können. Diese Phase ist für die Lehrperson auch ein Moment der Diagnose, um zu sehen, wo die Kinder stehen und was sie für das weitere Lernen brauchen oder wie sie die nachfolgende Sequenz angehen soll.
Nehmen wir wieder ein Beispiel zum historischen Lernen in NMG: Die Klasse besucht die Ruine der mittelalterlichen Burg oberhalb des Dorfs. Mittels der ersten explorativen Aufgaben sollen die Schülerinnen und Schüler die räumliche, materielle und atmosphärische Dimension der Ruine erkunden. Sie klettern auf Mauerreste, erleben die unterschiedlichen Höhen und Dicken der Mauern, verschiedene Gesteinsformen und -grössen, Farben, Schattierungen und Strukturen. Sie entdecken warme und kalte sowie helle und dunkle Orte in der Ruine. Anschliessend werden diese Erlebnisse durch den Austausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern sowie das angeleitete Gespräch mit der Lehrperson zu geteilten Erfahrungen, mit denen dann weiter gelernt werden kann. Die Schülerinnen und Schüler formulieren Auffälligkeiten und Fragen, die anschliessend systematisch erforscht werden können. Wo war eigentlich der Eingang? Wo haben die Menschen wohl damals geschlafen? Warum weiss du das? Wie können wir das begründet beantworten?
Die Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten, vom Einfachen zum Komplexen – und wieder zurück! – oder die Kombination von enaktiven (handlungsbezogen), ikonischen (bildlich) und symbolischen (sprachlich) Zugangsweisen und Repräsentationen (im Sinne Jerome Bruners) bieten Hilfe für die Orientierung an einem inklusiven Lernsetting.
Kernelement von Lehrmitteln sind Lernaufgaben. Viele Lehrmittel stellen diese in zwei oder mehr Niveaus zur Verfügung. Auf den ersten Blick widerspricht dies doch einem inklusiven Unterricht, in welchem Schülerinnen und Schüler am gemeinsamen Gegenstand bzw. an gemeinsamen Lernaufgaben arbeiten?
Jein, eine gemeinsame Erfahrung entsteht auch, wenn jedes Kind am Ende einer Lektion sein Lernprodukt zeigt und berichtet, wie es dazu gekommen ist (Meta-Lernen). Lernen an Produkten sichtbar zu machen, eröffnet gemeinsame Lernräume und Möglichkeiten zur Reflexion und Diagnostik. Inklusiver Unterricht macht deutlich, dass es in der Schule um weit mehr geht als um fachliches Lernen. Es gilt, das Lernengagement der Kinder zu fördern, sie bei der Verarbeitung von Informationen zu unterstützen und vor allem die Entwicklung von Selbstständigkeit und Selbststeuerung im Umgang mit Anforderungen in Schule und Unterricht zu unterstützen. Deshalb sollten Lehrmittel und Lernmaterialien vielfältig und an verschiedenen Kriterien orientiert sein:
- Niveaudifferenzierung mit vereinfachten, textentlasteten Arbeitsblättern / -aufträgen sowie unterschiedliche Komplexität von Aufträgen
- spielerische Aufgaben, Gruppenaktivitäten, Lieder
- ansprechendes Bildmaterial (Bildkarten), passende Bilderbücher, Vorlagen für eigene Baumodelle, Filme
- Hinweise zu ausserschulischen Lernorten (z.B. in NMG)
- passende Online-/Computeraufträge/-übungen
- farbliche Gliederung der Themen
Lehrpersonen wünschen sich Lehrmittel (übersichtlich mit Bildern), die modular aufgebaut sind mit Grundanforderungen, erweitertem Angebot, Lernzielkontrollen zum Anpassen sowie herausfordernden offenen Aufgaben. Lehrkommentare sollten mit Praxisbeispielen kurz und prägnant über das Wichtigste informieren und mit Bildern zum Lernsetting die Umsetzung in der Klasse illustrieren. Lehrmittel sollten ansprechend gestaltetes Unterrichtsmaterial beinhalten, das Lehrpersonen in ihrer Arbeit entlastet und Lernende in ihrer Lernorganisation unterstützt.
CMT: Weil wir inkludieren, glauben wir ja nicht, dass alle die gleichen Voraussetzungen haben. Vielmehr haben alle das gleiche Recht auf gleiche Behandlung sowie Teilhabe. Beim Differenzieren bleibt das Elementare oder Gemeinsame erhalten. Aber zugegeben, viele von uns Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker sind wohl immer noch zu wenig inkludierend unterwegs. Ich meine, viele definieren idealtypische Lernende und idealtypischen Lernwege. Dann werden die Schwachen auf die «untere» Niveauschiene umgeleitet und die Guten entsprechend auf die «obere».
Digitale Tools bieten die Möglichkeit zur Text- und Leseentlastung, zum Beispiel durch den Einsatz von Audios oder Videos.
Welchen Einfluss hat die digitale Transformation auf den inklusiven Unterricht und auf das Lernen am gemeinsamen Gegenstand? Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie?
CMT: Im Sinne des UDL hat sich in Bezug auf die Zugänglichkeit unglaublich viel getan. Die digitale Transformation erweitert und ermöglicht multiple Darstellungsmöglichkeiten (Was wird gelernt?). Lerninhalte können leichter und schneller auf verschiedene Arten und multimodal präsentiert werden: Text, Audio, Video, Bilder etc. Das ermöglicht den Zugang für unterschiedliche Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweisen. Sie ermöglicht multiple Handlungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen (Wie wird gelernt?). Das bietet Lernenden verschiedene Wege, um ihr Wissen zu zeigen: mündlich, schriftlich, gestalterisch, handelnd-darstellend etc. Dadurch können motorische, sinnliche, kommunikative und kognitive Unterschiede berücksichtigt werden. Auch bietet die digitale Transformation mehrere Möglichkeiten der Motivation und Beteiligung (Warum wird gelernt?). Sie schafft Wahlmöglichkeiten, kann dadurch die Relevanz des Lerngegenstands für die Schülerinnen und Schüler erhöhen und Anreize zur Selbstregulation schaffen sowie unterschiedliche Interessen und Antriebe aktivieren.
Insbesondere digitale Tools bieten die Möglichkeit zur Textentlastung. Sie können Lehrpersonen dabei helfen, Texte auf unterschiedliche Leseniveaus umzuformulieren. Zudem bringt die digitale Transformation auch eine Leseentlastung in NMG, weil audiovisuelle Formate einfacher zugänglich und einsetzbar sind. Diese dienen wiederum der Anschaulichkeit. Was dadurch nicht unterschlagen werden darf, sind enaktive und handlungsorientierte Lernsequenzen.
SPM: Auch aus sonderpädagogischer Sicht überwiegen die Vorteile klar, zumal assistive Technologien für die Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigungen schon immer zentral waren. Auch KI eröffnet neue Handlungsansätze, zum Beispiel über Avatare für Menschen mit Sprach- und Sprechbeeinträchtigungen. Mit Virtual Reality-Brillen können Personen im Rollstuhl Mobilitätstrainings auf unterschiedlichen Fahrbelägen oder auf verkehrsreichen Strassen simulieren.
Zum Schluss: Was hat sich aus Ihrer Sicht bezüglich Lehrmittel und inklusivem Lernen in den vergangenen Jahren verbessert? Wo sehen Sie weiteres Potenzial für die Zukunft?
CMT: Ich denke, dass sich die Fachdidaktiken noch zu wenig auf die Sonderpädagogik zubewegt haben. Wir kennen voneinander die jeweiligen Konzepte, Diskurse und Forschungsergebnisse noch viel zu wenig. Umgekehrt gilt das wohl auch für die Sonderpädagogik. So könnten die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen von den Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern zum Beispiel lernen, wie man den «gemeinsamen Gegenstand», den Lerngegenstand oder die Sache fachlich – im Sinne der Elementarisierung – präziser formulieren und gestalten kann.
SPM: Wir sind auf gutem Weg, da Lernen am «gemeinsamen Gegenstand» an viele Fachbereiche des pädagogisch-didaktischen Diskurses anschlussfähig ist. Das ist erfreulich. Inklusiver Unterricht wird von verschiedenen Personen in multiprofessioneller Teamarbeit gesteuert. Er ist sozusagen ein kooperatives Produkt, das nach Zusammensetzung des Teams und in Abhängigkeit von den Lernausgangslagen und -bedarfen in einer Klasse variiert. Bildungsmedien sollten diese Kooperationsstrukturen und kooperativen Unterrichtsprozesse berücksichtigen und digital unterstützen sowie Accessibility für verschiedene Professionen mitdenken. Digitale Medien, assistive Technologien und der Einbezug universeller Designs gehören zur Grundausstattung. Integration ist unteilbar, insofern sollte interdisziplinäre Forschung und Zusammenarbeit an Pädagogischen Hochschulen gefördert und verstärkt eingefordert werden (z.B. Fachdidaktik – Sonderpädagogik – Berufspraxis) und durch Anfragen, wie die vorliegende, zur gemeinsamen Diskussion und Auseinandersetzung einladen. Der Mehrwert der Zusammenarbeit zwischen Disziplinen und von Wissenschaft und Praxis dürfte in Zukunft vor allem im Handlungsfeld Schule deutlicher und sichtbarer werden.
Portrait der Autorin und des Autors
Silvia Pool Maag ist Professorin für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
→ Portrait
Christian Mathis ist Professor für Didaktik der Geschichte und Natur, Mensch, Gesellschaft an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
→ Portrait
Literatur
CAST (2023). About Universal Design for Learning. Abgerufen von https://www.cast.org/impact/universal-design-for-learning-udl
Feuser, G. (2017). Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Offener Unterricht - Antwort auf Heterogenität" der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz am 11.01.2007 in Luzern. Abgerufen von https://www.georg-feuser.com/lernen-am-gemeinsamen-gegenstand
Frohn, J., Brodesser, E., Moser, V. & Pech, D. [Hrsg.] (2019). Inklusives Lehren und Lernen: Allgemein- und fachdidaktische Grundlagen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
Häcker, Th., Köpfer, A., Rühlow, D. & Granzow, St. [Hrsg.] (2024). EIN Unterricht für Alle? Zur Planbarkeit des Gemeinsamen und Kooperativen im Inklusiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
Huber, Ch. & Grosche, M. (2012). Das response-to-intervention-Modell als Grundlage für einen inklusiven Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik. Zeitschrift für Heilpädagogik, 8, 312-322.
Kaiser, A., & Seitz, S. (2020). Inklusiver Sachunterricht: Theorie und Praxis (2. unveränderte Auflage). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Pool Maag S. (2024). Unterricht für alle braucht Lehrmittel für alle: Lehrmittelentwicklung für inklusiven Unterricht zwischen Didaktik, Diversität und Digitalität. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 02/2024. Abgerufen von https://ojs.szh.ch/zeitschrift/article/view/1310/1600
Schomaker, C. (2013). Sachunterricht und der Anspruch der Inklusion. In: E. Gläser, G. Schönknecht, (Hrsg.), Sachunterricht in der Grundschule. Entwickeln - gestalten - reflektieren (48-57). Frankfurt am Main: Grundschulverband - Arbeitskreis Grundschule.
Schöttler, Ch. (2019). Deutung dezimaler Beziehungen. Epistemologische und partizipatorische Analysen von dyadischen Interaktionen im inklusiven Mathematikunterricht. Wiesbaden: Springer.
Seitz, S. (2009). Inklusive Didaktik: Die Frage nach dem "Kern der Sache". Zeitschrift für Inklusion, 1(1). Abgerufen von https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/184
Wocken, H. (1998). Gemeinsame Lernsituationen. Eine Skizze des gemeinsamen Unterrichts. In: A. Hildeschmidt & I. Schnell (Hrsg.), Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle, 37-52. Weinheim: Juventa.
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